Global menu

Our global pages

Close

Arbeitsrecht 2023: „Nichts ist so beständig wie der Wandel“

  • Germany
  • Employment law

27-12-2022

Auch das kommende Jahr 2023 hält einige Gesetzesänderungen für die Arbeitswelt bereit. Außerdem hat das Bundesarbeitsgericht im Jahr 2022 einige wichtige Entscheidungen getroffen, die das Arbeitsleben bereits in 2022 beeinflusst haben und auch künftig beeinflussen werden. Die wichtigsten Neuerungen, geplanten Änderungen und die maßgeblichen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts wollen wir Ihnen wie gewohnt in einer Übersicht vorstellen.

1. Feststehende Änderungen für das Jahr 2023

Corona Sonderregelungen im Jahr 2023

Auch im Jahr 2023 werden uns die Sonderregelungen rund um den Umgang mit Corona am Arbeitsplatz weiter beschäftigen.

| Die Bundesregierung hat bereits mit Wirkung zum 1. Oktober 2022 eine neue Fassung der SARS-CoV-2 Arbeitsschutzverordnung verabschiedet. Bis zum 7. April 2023 treffen die Arbeitgeber mithin erweiterte Pflichten – ihnen werden aber auch Privilegien zuteil:

Arbeitgeber sind erneut verpflichtet, ihr betriebliches Hygienekonzept zu ertüchtigen oder, falls ein solches noch nicht existiert, ein Hygienekonzept zu erstellen. Zudem sind Arbeitgeber nach der Arbeitsschutzverordnung verpflichtet, mit konkreten Angeboten oder Unterstützung der Arbeitnehmer1, die Impfquote zu erhöhen.

| Darüber hinaus erfuhr auch das Betriebsverfassungsgesetz eine Änderung, die zur Erleichterung der digitalen Betriebsratsarbeit führen soll. Mit Beschluss des Bundesrates vom 16. September 2022 wurde die Möglichkeit der digitalen Betriebsratsarbeit verlängert. Der bisherige § 129 BetrVG wurde in seinem Absatz 2 dahingehend geändert, dass die Sonderregelung bis einschließlich 7. April 2023 gelten soll.

Dies bedeutet für die Praxis, dass sowohl Betriebsversammlungen als auch Sitzungen der Einigungsstelle digital, d.h. per Video- oder auch Telefonkonferenz durchgeführt werden können.

Elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Wie bereits im Vorjahr angekündigt, macht der Digitalisierungsprozess auch vor dem Gesundheitswesen keinen Halt. Nachdem die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) zunächst von Januar 2022 auf Juli 2022 verschoben wurde und sich seitdem in einer „Pilotphase“ befindet, sind Arbeitgeber ab dem 1. Januar 2023 verpflichtet, Daten der Arbeitsunfähigkeit der gesetzlich versicherten Arbeitnehmer bei den gesetzlichen Krankenkassen abzurufen. Die Verpflichtung der Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf dem typischen „gelben Schein“ abzugeben entfällt somit. Hiervon unberührt bleibt jedoch die Pflicht der Arbeitnehmer, sich nach wie vor beim Arbeitgeber unverzüglich arbeitsunfähig zu melden und dies ggf. auch vom Arzt feststellen zu lassen. Vorerst werden Arbeitnehmer auch weiterhin den „gelben Schein“ vom behandelnden Arzt erhalten, sind jedoch nicht zur Vorlage beim Arbeitgeber verpflichtet. Mit dieser Neuerung geht jedoch nicht das Recht des Arbeitgebers einher, anlasslos elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bei den Krankenkassen abzurufen.

Für privat versicherte Arbeitnehmer bleibt jedoch noch „alles beim Alten“.

Mindestlohn und Erhöhung des Mindestlohns sowie gesetzlichen Jahresurlaubs im Bereich der Pflege

| Der gesetzliche Mindestlohn wurde am 1. Oktober 2022 auf EUR 12,00 pro Stunde angehoben. Eine weitere Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns wird in 2023 nicht erfolgen.

| Im Bereich der Pflege erfolgt im Jahr 2023 jedoch eine stufenweise Erhöhung des Mindestlohns.

Die konkrete Erhöhung richtet sich danach, ob es sich um eine Pflegefachkraft, Pflegekraft mit ein- oder zweijähriger Berufsausbildung oder um eine Pflegekraft ohne Ausbildung handelt. Die Erhöhung des Pflegemindestlohns erfolgt zudem in zwei Stufen. Die erste zum 1. Mai 2023 und die zweite zum 1. Dezember 2023.

| Für Pflegefachkräfte erhöht sich der Stundenlohn auf der ersten Stufe auf EUR 17,65 pro Stunde. Mit der zweiten Stufe wird der Stundenlohn auf EUR 18,25 angehoben.

| Pflegekräfte mit einer ein- bzw. zweijährigen Berufsausbildung erhalten auf der ersten Stufe einen Mindestlohn in Höhe von EUR 14,90 pro Stunde. Mit der zweiten Stufe wird der Stundenlohn sodann nochmals auf EUR 15,25 angehoben.

| Auch der Mindestlohn für ungelernte Pflegekräfte steigt im kommenden Jahr an. Auf der ersten Stufe erhöht sich der Lohn auf mindestens EUR 13,90 pro Stunde. Mit der zweiten Stufe steigt der Mindestlohn auf EUR 14,15 pro Stunde.

| Nach der fünften Pflegearbeitsbedingungsverordnung erhalten Pflegekräfte für das Jahr 2022 einen zusätzlichen „Mehrurlaub“ von sieben Tagen (bezogen auf eine fünf Tagewoche); für die Jahre 2023 und 2024 jeweils in Höhe von neun Tagen. Dies bedeutet, dass für die Jahre 2023 und 2024 ein Mindesturlaubsanspruch in Höhe von 29 Urlaubstagen besteht.

Einführung des Lieferkettensorgfaltspflichtgesetzes

Zum 1. Januar 2022 tritt das neue Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz in Kraft.

Ziel des Lieferkettensorgfaltspflichtgesetzes ist es, Menschenrechte in globalen Lieferketten zu verbessern. Zweck ist nicht die weltweite Umsetzung von deutschen Sozialstandards, sondern die Sicherung der Einhaltung grundlegender Menschenrechts-standards, wie bspw. das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit. Außerdem steht das Recht auf faire Löhne und der Schutz der Umwelt im Fokus des Gesetzes.

Vom Anwendungsbereich des Lieferkettensorgfaltspflichtgesetzes erfasst sind Unternehmen mit mehr als 3000 Arbeitnehmern. Diese trifft ab dem 1. Januar 2023 eine verstärkte Sorgfaltspflicht. Insbesondere müssen die erfassten Unternehmen in einem ersten Schritt etwaige Risiken in ihrer Lieferkette ermitteln, die Risiken bewerten und priorisieren. Darüber hinaus hat das Unternehmen eine sog. Grundsatzerklärung abzugeben, die insbesondere die folgenden Elemente der unternehmerischen Menschenrechtsstrategie enthält:

| Eine Verfahrensbeschreibung für die Sicherstellung der Pflichteinhaltung,

| die festgestellten Risiken für Verstöße gegen die gesetzlichen Regelungen im eigenen Unternehmen und

| Erwartungen des Unternehmens an seine Beschäftigten und Zulieferer.

Das Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz stellt Mindestanforderungen an diese Grundsatzerklärung.

Die Sorgfaltspflichten der vom Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz erfassten Unternehmen enden jedoch nicht beim eigenen Handeln des Unternehmens, sondern erstrecken sich grundsätzlich auf die gesamte Lieferkette, d.h. von der Rohstoffgewinnung bis hin zum verkaufsfähigen Endprodukt. Auch mittelbare Zulieferer sind einzubeziehen, wenn das Unternehmen substantiierte Kenntnis von Menschenrechtsverletzungen erhält.

Darüber hinaus sind die betroffenen Unternehmen u.a. auch dazu verpflichtet, sog. Beschwerdekanäle für die in den Lieferketten tätigen Personen einzurichten und regelmäßig Bericht über Lieferkettenmanagement zu erstatten.

Verstöße gegen das Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz sind bußgeldbewehrt. Die Bußgelder reichen von einer Strafe in Höhe von EUR 100.000,00 bis hin zu 2 % des durchschnittlichen Jahresumsatzes. Letzteres gilt für Unternehmen mit einem durchschnittlichen Jahresumsatz von mehr EUR 400 Millionen.

Ab dem 1. Januar 2024 sinkt der Schwellenwert im Hinblick auf die Unternehmensgröße, sodass ab diesem Zeitpunkt bereits Unternehmen mit mehr als 1000 Arbeitnehmern erfasst werden. Aus diesem Grund bietet es sich an, dass auch Unternehmen dieser Größenordnung bereits im kommenden Jahr etwaige Risiken innerhalb der Lieferkette ermitteln und entsprechende Vorkehrungen zur Einhaltung des Lieferkettensorgfaltspflichtgesetzes treffen.

Verlängerung der sog. „Westbalkanregelung“

Seit 2016 haben Staatsangehörige aus Westbalkanstaaten einen erleichterten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten. Von dieser Regelung erfasst sind Staatsangehörige aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien und Serbien. Aufgrund der hohen Nachfrage von Arbeitgebern nach Kräften aus den sog. Westbalkanstaaten wurde seitens der Bundesregierung beschlossen, für Staatsangehörige der Westbalkanländer den erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt bis einschließlich 31. Dezember 2023 zu verlängern. Arbeitswillige können nach § 26 Abs. 2 der Beschäftigungsverordnung trotz fehlender Deutschkenntnisse und beruflicher Qualifikation ein Visum beantragen, wenn sie ein verbindliches Jobangebot nebst Arbeitsvertrag vorweisen können. Die Anzahl der Visa ist begrenzt auf 25.000 pro Kalenderjahr. Bei erstmaliger Beantragung setzt die Zustimmung voraus, dass der Antrag seitens des Arbeitnehmers bereits im jeweiligen Heimatstaat bei der deutschen Auslandsvertretung gestellt wird. Ein Einsatz der vorbenannten Staats-angehörigen als Leiharbeitnehmer ist weiterhin nicht möglich.

Berufliche Weiterbildung während der Kurzarbeit

Bis einschließlich 31. Juli 2023 kann der Arbeitgeber staatliche Zuschüsse für Ausgaben zur beruflichen Weiterbildung von Arbeitnehmern erhalten. Voraussetzung ist, dass die Weiterbildung in einem Zeitraum während der Kurzarbeit begonnen wurde, die Maßnahme mindestens 120 Zeitstunden umfasst und sowohl Maßnahme als auch der Träger zugelassen sind. Alternativ ist die Maßnahme förderungsfähig, wenn sie auf ein nach dem Ausbildungsfortbildungsförderungsgesetz förderungsfähiges Fortbildungsziel vorbereitet und der Träger hierfür geeignet ist. Die Zahlung der Zuschüsse erfolgt über die Sozialversicherungsbeiträge.

Hinweisgeberschutzgesetz (Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie)

Wie bereits in unserem letztjährigen Beitrag angesprochen, war die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, bis zum 17. Dezember 2021 die EU-Richtlinie zur Einführung einheitlicher Standards für den Schutz von Whistleblowern umzusetzen. Nach wie vor konnte die Bundesregierung kein konkretes Hinweisgeberschutzgesetz verabschieden. Derzeit befindet sich der in zweiter und dritter Lesung durch den Bundestag verabschiedete Gesetzesentwurf beim Bundesrat. Nach aktuellem Stand ist mit einem Inkrafttreten in der ersten Hälfte des Jahres 2023 zu rechnen.

Dennoch müssen sich Arbeitgeber bereits 2023 auf neue Pflichten im Hinblick auf das zu erwartende Hinweisgeberschutzgesetz einstellen. Der jetzige Gesetzesentwurf soll (angelehnt an Art. 8 Abs. 1, 3, Art. 26 der Whistleblower-Richtlinie) insbesondere vorsehen, dass Unternehmen interne Meldestellen einrichten müssen, die Arbeitnehmer kontaktieren können, wenn sie auf Verstöße im Unternehmen aufmerksam machen wollen. Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden müssen die Regeln sofort ab Inkrafttreten umsetzen, Unternehmen mit 50 bis 249 Mitarbeitenden genießen voraussichtlich eine Schonfrist bis zum 17. Dezember 2023. Aufgrund des bisherigen Gesetzesentwurfs ist Unternehmen bereits an dieser Stelle zu empfehlen,– auch ohne nationales Gesetz – ein Meldesystem zu etablieren, das den Anforderungen der EU-Richtlinie gerecht wird. Nicht zu vergessen ist bei der Einführung eines solchen Meldesystems, dass dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zusteht.

Verlängerung des vereinfachten Zugangs zum Kurzarbeitergeld

Die Bundesregierung hat beschlossen, die Sonderregelung zum vereinfachten Zugang zum Kurzarbeitergelt bis Ende Juni 2023 zu verlängern. Diese Verlängerung hat insbesondere den Vorteil, dass Kurzarbeitergeld nach wie vor bereits gezahlt werden kann, wenn mindestens zehn Prozent statt regulär ein Drittel der Beschäftigten von einem Entgeltausfall betroffen sind. Zudem müssen Beschäftigte keine negative Arbeitszeitsalden vor dem Bezug von Kurzarbeitergeld aufbauen.

Auch für Leiharbeitnehmer ist der Bezug von Kurzarbeitergeld weiterhin ermöglicht.

Gewährung einer Inflationsausgleichsprämie

Die Gewährung einer Inflationsausgleichsprämie fußt auf einer Regelung im „Gesetz zur temporären Senkung des Umsatzsteuersatzes auf Gaslieferungen über das Erdgasnetz“, die am 25. Oktober 2022 durch die Bundes-regierung verkündet wurde und rückwirkend zum 1. Oktober 2022 in Kraft trat. Mit der Inflationsausgleichsprämie soll Arbeitgebern die Möglichkeit eingeräumt werden, im Zeitraum vom 26. Oktober 2022 bis zum 31. Dezember 2024 Arbeitnehmern eine steuerfreie Prämie zu gewähren. Sinn und Zweck der Steuerprivilegierung ist insbesondere, Arbeitnehmer im Hinblick auf die gestiegenen Verbraucherpreise zu entlasten. Zu beachten ist, dass der Arbeitnehmer grundsätzlich keinen Anspruch auf die Prämie hat. Es handelt sich hierbei – ähnlich wie bei der Corona-Prämie – um eine freiwillige Sonderzahlung des Arbeitgebers. Auch wenn es sich um eine freiwillige Sonderzahlung des Arbeitgebers handelt ist in Betrieben mit Betriebsrat das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG im Hinblick auf die Ausgestaltung der Gewährung zu beachten.

2. Allgemeine aktuelle Themen

Tarifvertragsverhandlungen

Das Jahr 2022 war bereits geprägt von zahlreichen Tarifvertragsverhandlungen im Bereich der Metall- und Elektroindustrie, die ihren Abschluss im November 2022 gefunden haben.

Nun stehen in 2023 im Bereich des öffentlichen Dienstes ebenfalls Tarifvertragsverhandlungen an. Vornehmlich wird es auch hier um eine Gehaltssteigerung gehen. Von etwaigen Arbeitskampfmaßnahmen betroffen sein können Versorgungsbetriebe, die Bundesagentur für Arbeit, der Öffentliche Dienst von Bund und Gemeinden, die Deutsche Rentenversicherung Bund, der Arbeitgeber-verband der gesetzlichen Rentenversicherung sowie die Knappschafft Bahn-See.

Folgen der Neuerungen des Nachweisgesetzes

Ein wichtiges Thema in 2022 war die Änderung des Nachweisgesetzes. Das geänderte Nachweisgesetz ist zum 1. August 2022 in Kraft getreten. In seiner Neufassung gelten nunmehr andere Mindestanforderungen an den Inhalt von Arbeitsverträgen. Schon bisher musste der Arbeitgeber die wichtigsten Vertragsbedingungen schriftlich niederlegen. Ein Verstoß des Arbeitgebers gegen die gesetzliche Verpflichtung blieb nach der alten Gesetzeslage folgenlos.

Arbeitsverhältnisse, die ab dem 1. August 2022 begründet wurden, müssen nunmehr den gesetzlichen Bestimmungen des geänderten Nachweisgesetzes entsprechen. Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse bereits vor dem 1. August 2022 geschlossen und in Vollzug gesetzt worden sind, müssen grundsätzlich nicht angepasst werden. Der Arbeitnehmer hat jedoch weiterhin einen Auskunftsanspruch über die Vertrags-bedingungen. Ab Geltendmachung des Auskunftsanspruchs läuft für den Arbeitgeber eine Wochenfrist, innerhalb derer das Auskunftsgesuch erfüllt werden muss.

Von wesentlicher Bedeutung ist, dass seit dem 1. August 2022 ein Verstoß gegen Vorschriften des Nachweisgesetzes bußgeldbewährt ist. Jeder Verstoß kann mit einem Bußgeld von bis zu EUR 2.000,00 geahnt werden. Wenn nicht schon geschehen, sind die verwendeten Arbeitsvertragsmuster zwingend anzupassen. Außerdem bietet es sich an, für Bestandsverträge ein Muster-Informationsschreiben vorzubereiten, dass bei einem Auskunftsbegehren eines Arbeitnehmers mit wenig Aufwand individualisiert werden kann.

3. (Ausgewählte) wichtige Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

Auch im Jahr 2022 gab es für die arbeitsrechtliche Praxis wegweisende Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts und dem Europäischen Gerichtshof. Hiervon möchten wir Ihnen vier vorstellen.

Neues zur Massenentlassungsanzeige: „Soll-Angaben“ sind keine „Muss-Angaben“

Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts hat sich in seiner Entscheidung vom 19. Mai 2022 (Az.: 2 AZR 467/21) mit einem Urteil des Landesarbeitsgerichts Hessen vom 25. Juni 2021 befasst, welches wir bereits im letztjährigen Beitrag thematisiert htten. In seiner Entscheidung hat das Landesarbeitsgericht Hessen festgestellt, dass das Fehlen der sog. „Soll-Angaben“ zur Unwirksamkeit der erstatteten Massenentlassungsanzeige und zur Nichtigkeit der ausgesprochenen Kündigungen führt. Bei Lichte betrachtet hat das Landesarbeitsgericht die „Soll-„ zu „Muss-Angaben“ gemacht.

Der Senat hat die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hessen aufgehoben und festgestellt, dass das Fehlen der „Soll-Angaben“ für sich genommen nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige und in letzter Konsequenz auch nicht zur Nichtigkeit der damit im Zusammenhang ausgesprochenen Kündigungen führt.

Der Senat begründet seine Entscheidung mit dem gesetzgeberischen Willen und führt aus, dass dieser die Soll-Angaben gerade nicht als zwingend vorschreibt. Dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers dürfe ein nationales Gericht nicht entgegentreten.

Abweichung von gesetzlicher Höchstüberlassungsdauer durch TV LeiZ

Die Entscheidungen des Vierten Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 14. September 2022 (Az.: 4 AZR 83/21 und 4 AZR 26/21) hat Klarheit darüber gegeben, ob Kraft einer tarifvertraglichen Regelung die gesetzliche Überlassungshöchstdauer für den Einsatz von Leiharbeitnehmern abweichend von § 1 Abs. 1b Satz 1 AÜG festgelegt werden darf, wenn diese nicht tarifgebunden sind. Ausgangspunkt waren zwei divergierende Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg.

Der Senat hat – soweit es sich aus der Pressemitteilung entnehmen lässt – festgestellt, dass die Überlassungshöchstdauer für den Einsatz von Leiharbeitnehmern durch Tarifvertrag mit Wirkung auch für den Leiharbeitnehmer und den Verleiher verlängert werden kann und es auf eine Tarifgebundenheit des Leiharbeitnehmers nicht ankomme.

Darüber hinaus erteilt der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts der Rechtsprechung des 21., als auch des Vierten Senats des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg eine Absage. Bei § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG handelt es sich nach Auffassung des Vierten Senats des Bundesarbeitsgerichts um eine vom Gesetzgeber außerhalb des Tarifvertragsgesetzes vorgesehene Regelungsermächtigung, die es den Tarif-vertragsparteien der Einsatzbranche nicht nur gestattet, die Überlassungshöchstdauer abweichend von § 1 Abs. 1b Satz 1 AÜG verbindlich für tarifgebundene Entleiherunternehmen, sondern auch für Verleiher und Leiharbeitnehmer zu regeln, ohne dass es auf deren Tarifgebundenheit ankommt. Damit kommt es auf die von den Senaten des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg aufgeworfenen Fragen dahingehend, ob es sich bei den tarifvertraglichen Regelungen um eine Inhalts- oder Betriebsnorm handelt, nicht an.

Verjährung von Urlaubsansprüchen

Der Europäische Gerichtshof entschied am 22. September 2022 (Az.: C-120/21), dass der Anspruch auf den gesetzlichen Jahresurlaub durch nationale Verjährungsregelungen nur verfallen könne, wenn der betroffene Arbeitnehmer durch seinen Arbeitgeber zuvor rechtzeitig auf die Gefahr des Urlaubsverfalls hingewiesen und zur Urlaubsnahme aufgefordert worden sei. Ohne eine entsprechende Aufklärung könne sich der Arbeitgeber nicht auf nationale Verjährungsregelungen berufen.

Der Europäische Gerichtshof begründet seine Entscheidung insbesondere damit, dass es Aufgabe des Arbeitgebers sei, dem Arbeitnehmer als schwächere Partei des Arbeitsverhältnisses die Wahrnehmung seines Urlaubsanspruchs zur ermöglichen.

Die dem Europäischen Gerichtshof vorgelegte Frage, ob der gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch ohne Mitwirkung des Arbeitgebers verfalle, wenn ein Arbeitnehmer diesen nicht aufbrauche, obwohl es ihm möglich ist, sei nicht mit dem Fall vergleichbar, dass ein Arbeitnehmer seinen gesetzlichen Urlaubsanspruch aufgrund von Krankheit nicht aufbrauchen könne. Der Arbeitgeber habe es schließlich in der Hand, ob der gesetzliche Urlaubsanspruch angesammelt werde.

Um eine Anhäufung von Urlaubstagen zu vermeiden, empfehlen wir daher frühzeitig jeden Arbeitnehmer individuell über seinen restlichen Urlaubsanspruch zu informieren und ihn aufzufordern, diesen einzubringen.

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wurde jüngst am 20. Dezember 2022 (Az.: 9 AZR 266/20) vom Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts umgesetzt. Der Senat hat entschieden, dass der gesetzliche Mindesturlaub nur dann verjähren kann, wenn Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer frühzeitig auf ihren Urlaubsanspruch hinweisen und die Arbeitnehmer zudem darauf aufmerksam machen, dass die Nichtinanspruchnahme des gesetzlichen Mindesturlaubs zum Verfall des Urlaubsanspruchs führt.

Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung oder „Der Paukenschlag aus Erfurt“

Keine Entscheidung hat im Jahr 2022 für so viel Aufruhr gesorgt, wie der Beschluss des Neunten Senats vom 13. September 2022 (Az.: 1 ABR 22/21) zur Arbeitszeiterfassung. Dabei war Gegenstand der Entscheidung nicht die grundsätzliche Frage zur Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung, sondern vielmehr, ob der Betriebsrat vor Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems ein Mitbestimmungsrecht hat.

Der Erste Senat nahm jedoch nicht bloß zur mitbestimmungsrechtlichen Frage Stellung, sondern führte (scheinbar ganz beiläufig) dazu aus, dass die Mitbestimmung deshalb ausscheide, da der Arbeitgeber schon längst gesetzlich zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet sei. Diese Pflicht zur Arbeitszeiterfassung leitet der Senat aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ab.

Zwar ist es Arbeitgebern nach der Rechtsprechung des Senats gestattet, die Arbeitszeiterfassung an ihre Arbeitnehmer zu delegieren, der Arbeitgeber habe jedoch die tatsächliche und korrekte Arbeitszeiterfassung sicherzustellen. Vorgaben zur Art und Weise der Arbeitszeiterfassung existieren derzeit nicht.

Weitere Details zu dieser Entscheidung können Sie gerne im Beitrag unseres Kollegen Bernd Pirpamer nachlesen.

4. Ausblick

Schon der Titel dieses Beitrags „nichts ist so beständig wie der Wandel“ verrät, dass es für Arbeitgeber im Jahr 2023 viel zu tun gibt. Sie sind jedoch nicht allein. Gerne unterstützen wir Sie und Ihr Unternehmen in gewohnt zuverlässiger Weise bei der Umsetzung der Neuerungen.

Zunächst möchten wir jedoch die Gelegenheit nutzen um für Ihr Vertrauen zu danken und Ihnen einen guten Start in ein fröhliches und erfolgreiches Jahr 2023 zu wünschen.

---------------------------------------------------------------------------

1 Soweit in diesem Beitrag vorzugsweise männliche Formulierungen benutzt werden, wie z.B. Arbeitnehmer, erfolgt dies ausschließlich aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung, sie gelten für jede Art des Geschlechts.